Donnerstag, 19. Februar 2009

Reflektionen...

Mein strahlendes Gesicht erstarrt zu einer ausdruckslosen Maske, als der Arzt mir die lateinische Diagnose der Krankheit mitteilt, die mein Kind haben soll. Ich verstehe nicht, bekomme nur noch Wortfetzen mit, aber Herzfehler, selten und lebensbedrohlich dringen wie durch einen bleiernen Nebel zu mir hindurch. Unfähig zu antworten, mit starrem Blick, verlasse ich das Zimmer und trotte den unterirdischen Gang entlang, zurück zur Entbindungsstation. Ich bin wie betäubt und nur langsam verblasst der noch schützende Schleier über mir und die restlichen Wortfetzen des Arztes flimmern vor meinem inneren Auge.


Komplexer mehrfacher Herzfehler, Operation am offenen Herzen, so schnell wie möglich ... Was passiert hier gerade? Wo ist mein Kind? Langsam legt sich der Zustand der Starre und mit voller Wucht trifft mich die Realität. Meine Gefühle wechseln zwischen Hilflosigkeit und Wut und als ich anfange zu begreifen, wie kritisch der Zustand meiner Tochter ist, breche ich zusammen. Als ich aus meiner Erstarrung erwache, glaube ich geträumt zu haben. Ein schlechter Traum, doch so verdammt realistisch. Was ist passiert? Wo war meine Tochter? Langsam, sehr langsam kommt die Erinnerung wieder und trifft mich erneut mit voller Kraft. Jennifer wurde nach Gießen verlegt. Ihr Zustand ist kritisch und die lebensrettende Operation am offenen Herzen mit Herz-Lungen-Maschine, muss noch in den nächsten Tagen erfolgen.


Ich möchte zu dir, aber ich kann kaum laufen, so sehr schmerzt die Narbe, durch dessen Pforte du auf die Welt kamst. Und doch ist es kein Vergleich zu den inneren Qualen, die ich tief in mir fühle. Unglaublich der Zwiespalt der in mir wütet, viel heftiger als aller Schmerz der Welt, eine brutale Gewalt, die meine Seele zerreißt. Ich habe ein Kind geboren, ein Kind das auf Zukunft hofft und ich kann nicht sagen - „ich schenk sie dir.“
Noch am gleichen Tag, fahre ich nach Gießen. Ich möchte dich sehen und hören, dich einfach in den Arm nehmen. Mir tut alles weh, aber es ist kein Vergleich zu den Schmerzen, die du bald ertragen musst.


Die folgenden Tage sind grausam. Der Schock, das bewusst werden, ein krankes Kind geboren zu haben, verankert sich tief in meiner Seele. Mit Tränen in den Augen stehe ich vor deinem Bett und innerlich verfluche ich den Schöpfer. Bemitleide mich und empfinde Hass auf etwas, was ich nicht fassen kann. Du bist so unglaublich zart. So klein und zerbrechlich und ich will nicht dran denken, was nun auf dich zukommen wird. Ich bin bei dir, so oft und so lang es geht. Freue mich über jede Mimik, über jede Bewegung und sogar wenn du schläfst ist es eine Freude dir zu zuschauen. Ich bete oft und viel und wünsche mir von ganzem Herzen, dass du die Kraft hast zu leben und dich nicht dagegen entscheidest und deine Augen für immer schließt.
Der Herzkatheter ist für den 30.01. angesetzt. Doch es ist nur eine Bestätigung dessen, was wir schon wussten. Die Korrektur wird für den 31.01.2003 angesetzt. Ein Datum, welches ich nie vergessen werde.


Um 7.00 Uhr bringe ich dich in den OP Bereich. Die ganze Zeit über halte ich deine Hand und nur mit sanfter Gewalt, gelingt es den Schwestern mich von dir fortziehen. Mit Tränen in den Augen, verlasse ich die OP-Schleuse, versuche mich in den Geschäften der angrenzenden Stadt abzulenken, während die Ärzte nun um dein Leben kämpfen. In mir brodelt es, und obwohl die Operation bestimmt 6 Stunden dauern wird, bin ich nach zwei Stunden schon wieder auf dem Klinikgelände. Ich bin rastlos, habe Angst und pendele zwischen Eltern-Etage und dem Eingangsbereich der Klinik. Nach 6 Stunden rufe ich das erste mal auf der Intensivstation an, aber es gibt noch keinerlei Informationen aus dem OP. Die Zeit vergeht schleppend und meine positive Einstellung weicht langsam aber sicher den schlimmsten Befürchtungen.
Wieder ist etwas Zeit vergangen und ich bin ein nervliches Wrack. Es vergehen weitere 4 Stunden, ehe die erste Info aus dem OP kommt. Jenny lebt!! Dein Anblick ist schlimmer als ich erwartet habe. Meine Knie versagen und ich habe Mühe stehen zu bleiben. Dein Gesicht ist geschwollen und glänzt. Unnatürlich blass bist du - und die Augen sind mit Vaseline eingecremt .

Dein Brustkorb ist offen und nur durch die erste Hautschicht verschlossen. Dein ganzer Körper ist angeschwollen und Kabel und Infusionen so weit ich schauen kann. Der Schlauch in deiner Nase ist mit der Beatmungsmaschine verbunden, und wenn ich nicht sehen würde wie dein Brustkorb sich hebt und senkt, würde ich sagen du bist nicht mehr auf dieser Welt. Ich beobachte dich und plötzlich spüre ich, ganz tief in mir drin, du bist am Ende deiner Kraft, und so stelle ich mich der Herausforderung unseres Lebens und unterstütze deine mentale Kraft mit meiner eigenen physischer Stärke - durch die Situation hervorgerufenen Zustand und kämpfe innerlich den Kampf mit Dir, aber ich bin nie allein. Deine Engel helfen mir dabei, und das Wunder geschieht. Dein Wille zu Leben - ist mächtiger als deine Krankheit.

Trotzdem bleibt die Situation weiterhin sehr kritisch, und niemand weiß ob die Stärke, die du bisher aufgewiesen hast, energisch genug ist, deinen Weg fortzusetzen. Unbewusst fürchte mich vor jedem weiteren Tag. Die Tage sind kraftzehrend und eine psychische Zereisprobe für meine Nerven. Zwischen den Besuchen auf der Intensivstation sitze ich abwechselnd vor der Pforte oder im Elternzimmer und starre Löcher in die Luft. Nur langsam geht es aufwärts und nach sechs langen Wochen dürfen wir das erste Mal nach Hause.
Meine Ehe hält diesem hohen seelischen Druck nicht Stand und zerbricht an den Folgen der schweren seelischen Belastung und mangelnder - besser - fehlender Gespräche. Gerade in dieser Zeit hätte ich mir gewünscht, das es Menschen gibt, die mir zur Seite stehen. Aber keiner war da. Niemand an meiner Seite, als ich verzweifelt und stumm um Hilfe flehte.


Die nachfolgende Zeit ist schwierig und ist für mich anfangs nahezu grotesk.. Nur mit Mühe schaffe ich es den Tages-Ablauf neu zu organisieren und zu ordnen. Mit einem Schlag habe ich keine Zeit mehr für meine eigenen Anliegen und nötigen Dinge des Alltags. Alles richtet sich nach den Bedürfnissen meines Kindes und nach und nach nehmen meine Tage abstrakte Formen an. Es gibt keinen Rhythmus, keine Schlafenszeiten und schon gar keine Regelmäßigkeit, weder am Tag, noch in der Nacht. Jedes Geräusch ist für mich auffällig, anders und bedrohlich, und so bin ich in ständiger Bereitschaft, in Falle eines Falles für meine Tochter da zu sein.

Die nachstehenden Monate vergehen ruhelos und ungewohnt und sind einschneidend und prägend. Nach der großen Korrekturoperation fahren wir alle 3 Monate in die Universitätsklinik Gießen zu kardiologischen Kontroll-Terminen. Jennifer nimmt von Anfang an, jede unerwünschte Schwierigkeit mit und „Komplikation“ ist mittlerweile ihr zweiter Vorname. Der Druck in der rechten Herzkammer schießt in erschreckender Regelmäßigkeit in die Höhe, dass sich als vermehrten Schwitzen, geringer Belastbarkeit, und zunehmender Zyanose bemerkbar macht.

Im Laufe der Zeit kommen immer mehr Probleme und Folgeerkrankungen hinzu, die nichts mit dem Herzfehler an sich zu tun haben. Die Grunderkrankung stellt nur die Basis, der zusätzlichen Beschwerden dar, die sich im Laufe der Zeit leider manifestieren.


Und so müssen wir in den darauffolgenden Monaten und Jahren noch oft in die Klinik um Lungenentzündungen oder andere nicht kardiale Erkrankungen auszukurieren. Eine weitere Herausforderung stellte die zusätzlich erworbene Immun-Schwäche dar, welche am ehesten als Begleiterscheinung des komplexen Herz-Vitium zu deuten war. Die damit einhergehenden Infektionskrankheiten bescherten uns weitere nervenaufreibende Klinikaufenthalte.


Der fortwährende Kampf um ein Hauch Leben ist anstrengend. Jede weitere Diagnose verwundet mich schwer, und raubt mir mehr Kraft, als ich zuweilen bereit bin zu geben. Zwischen Krankenhausaufenthalten, Rehabilitations-Maßnahmen und Förderungs-Terminen wie Krankengymnastik und Logopädie, haben wir nur selten Gelegenheiten, eine längere Zeit am Stück zu genießen. Trotz motorischer und sprachlicher Förderung, können wir selten einen vollendeten Erfolg verbuchen. Es ist ein ständiges Hoch und tief und meistens ist es so, dass behobene Blockaden, anderen Schwächen weichen. Die geistige, motorische Entwicklung geht nur schleppend voran, und es dauert endlos, ehe wir ein kleines Stück vorankommen. Jennifer entwickelt sich nicht wie andere Kinder, hat kein Angstpotential, kaum Ausdauer beim Spielen und ich war und bin heute noch, ständig damit beschäftigt, von einer Ecke zur nächsten zu hechten, um sie aus potenziellen Gefahrenquellen herauszuholen.
Aber trotz schwieriger und anstrengenden Situationen, die es immer wieder zu meistern gilt, gibt es dazwischen zahlreiche herzerfrischende und lustige Anecktoden, die mir immer wieder ein Grinsen ins Gesicht zaubern.


So ist es nicht ungewöhnlich, wenn das Telefon plötzlich in der Badewanne klingelt. Und die langvermisste Kinderzahnbürste, sich nach Wochen wieder, im Blumenkübel auf dem Balkon wiederfindet. Beim Backen, auf seltsame Art und Weise Eier verschwinden und das Eigelb am Fernseher, unter Umständen auch an den Fensterscheiben, ihr malerisches Ende finden. Alles ist bei uns anders. Engel haben nur einen statt zwei Flügel, Fische bekommen bei uns regelmäßig was zu lesen und Spielsachen ins Wasser, Blüten und Blätter sind grundsätzlich in der ganzen Wohnung verteilt, was letztendlich auch Anlass für mich war, dass Pflanzen keinen festen Platz mehr in unserer Wohnung haben und auch meine Lektüren werden von Zeit zu Zeit umgelagert. Jedes Mal, entsprechend der sporadischen Entwicklung meiner Tochter angepasst, immer ein Bücherregal höher und Freunde die selten, wenn überhaupt zu Besuch kommen, werden darüber informiert, dass es besser ist, ihren Cappuccino in der Hand zu behalten.


Im Laufe der Jahre, haben sich meine Prioritäten stark gewandelt. Meine Sichtweisen haben sich geändert, hervorgerufen durch die Faktoren unserer besonderen Lebensumstände. Meine Erziehungsmethode individuell, weil Erziehung für mich nur noch nebensächlich ist. Banale Dinge haben für mich heute einen höheren Stellenwert.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen