...und wurdest ihm wieder entrissen...
Meine Tochter ist „anders" als die meisten Kinder. Sie ist behindert, abweichend von dem, was die Gesellschaft als „normal" bezeichnet. , aber für mich einzigartig in ihrer Persönlichkeit, weil sie eine Stärke besitzt, die nur wenige Menschen erlangen. Ihr ganzes Wesen hinterlässt beachtliche Spuren in meiner Seele und mit ihrem Willen, zu leben, durchbricht sie alle Grenzen.
Geboren mit einem mehrfachen komplexen Herzfehler. Noch vor wenigen Jahren ohne eine Chance auf Leben. Die Zweisamkeit geprägt von Krankenhausaufenthalten, Schmerz, Niederlagen und Angst. Aber auch Zuversicht, Hoffnung, Erfolge und fröhliches Lachen gehören zu unserem Alltag. Die Glücksgefühle über die kleinen Erfolge sind für uns genauso präsent, wie das bewusste Erleben der wenigen Fortschritte, die wir erzielen.
Auf der Gefühls-Skala von Hoffnung bis Verzweiflung durchlebte ich alle Facetten, und pendelte fortwährend von einem Extrem zum anderen.
Innerlich zerrissen durchlebte ich Phasen, in denen ich einfach nur existierte, und einfach nur endlos traurig war. Weder Hoffnung noch Ziele hatte.
An anderen Tagen war ich einfach nur glücklich, voll unbändiger Lebensfreude, und voller Zuversicht.
Es dauerte Monate, ehe ich die Stabilität in mein Leben wieder gefunden hatte.
Natürlich kann und will ich nicht leugnen, dass es auch bei mir Tage gibt, wo ich das Gefühl habe durch zu drehen, aber das geschieht eigentlich nur, wenn andere Dinge völlig schief laufen. Dann ist es schwierig, der Versuchung zu wiederstehen, Benjamin Blümchen den Rüssel umzudrehen, weil sein "Töröööh" schon seit Stunden durchs Auto röhrt.
Wenn ich auf die letzten 5 Jahre zurückblicke, die ich mit meiner Tochter erlebten durfte, muss ich zugeben, dass ich anfangs nur reagiert und funktioniert habe. Meine Erinnerung an die erste Zeit ist immer gegenwärtig, und selbst heute, nach so vielen Jahren, kann ich den Schmerz und die Hilflosigkeit von damals fühlen.
Ich freute mich so auf meine kleine Tochter. Ich sah sie nur ganz flüchtig. Strahlte über das ganze Gesicht. Nur kurze Zeit später der Satz, dessen Bedeutung mein ganzes Leben veränderte.
Ihre Tochter ist krank, todkrank - und dann, Stille - Totenstille.
Ich habe geweint, die Ärzte verflucht und die Wahrheit verdrängt. Darauf gewartet, endlich aus diesem fürchterlichen Traum zu erwachen.
Stattdessen die Diagnose. Truncus arteriosus communis Typ A4 mit unterbrochenen Aortenbogen, ASDII, VSD. Ihre Tochter hat einen komplexen mehrfachen Herzfehler. Es klingt so endgültig.
Mein strahlendes Gesicht erstarrt zu einer ausdruckslosen Maske, als der Arzt mir die lateinische Diagnose der Krankheit mitteilt, die mein Kind haben soll. Ich verstehe nicht. . . bekomme nur noch Wortfetzen mit, aber Herzfehler, selten und lebensbedrohlich dringen wie durch einen bleiernen Nebel zu mir hindurch. Unfähig zu antworten, mit starrem Blick, verlasse ich das Zimmer und trotte den unterirdischen Gang entlang, zurück zur Entbindungsstation. Ich bin wie betäubt und nur langsam verblasst der noch schützende Schleier über mir und die restlichen Wortfetzen des Arztes flimmern vor meinem inneren Auge. Komplexer mehrfacher Herzfehler, Operation am offenen Herzen, so schnell wie möglich . . . Was passiert hier gerade? Wo ist mein Kind? Langsam legt sich der Zustand der Starre und mit voller Wucht trifft mich die Realität. Meine Gefühle wechseln zwischen Hilflosigkeit und Wut und als ich anfange zu begreifen, wie kritisch der Zustand meiner Tochter ist, breche ich zusammen.
Als ich aus meiner Erstarrung erwache, glaube ich geträumt zu haben. Ein schlechter Traum, doch so verdammt realistisch. Was ist passiert? Wo war meine Tochter? Langsam, sehr langsam kommt die Erinnerung wieder und trifft mich erneut mit voller Kraft.
Die folgenden Tage sind grausam. Der Schock, das bewusst werden, ein krankes Kind geboren zu haben, verankert sich tief in meiner Seele.
Mit Tränen in den Augen, verlasse ich die OP-Schleuse, versuche mich in den Geschäften der angrenzenden Stadt abzulenken, während die Ärzte nun um das Leben meiner Tochter kämpfen. In mir brodelt es, und obwohl die Operation bestimmt 6 Stunden dauern wird, bin ich nach zwei Stunden schon wieder auf dem Klinikgelände. Ich bin rastlos, habe Angst und pendele zwischen Eltern-Etage und dem Eingangsbereich der Klinik. Nach 6 Stunden rufe ich das erste mal auf der Intensivstation an, aber es gibt noch keinerlei Informationen aus dem OP. Die Zeit vergeht schleppend und meine positive Einstellung weicht langsam aber sicher den schlimmsten Befürchtungen. Wieder ist etwas Zeit vergangen und ich bin ein nervliches Wrack. Es vergehen weitere 4 Stunden ehe die erste Info aus dem OP kommt. Jenny lebtDein Anblick ist schlimmer als ich erwartet habe. Meine Knie versagen und ich habe Mühe stehen zu bleiben. Dein Gesicht ist geschwollen und glänzt, unnatürlich blass bist du und die Augen sind mit Vaseline eingecremt .
Dein Brustkorb und deine Brust sind ebenfalls extrem angeschwollen und Kabel und Infusionen wo weit ich schauen kann. Der Schlauch in deiner Nase ist mit der Beatmungsmaschine verbunden, und wenn ich nicht sehen würde wie dein Brustkorb sich hebt und senkt, würde ich sagen du bist nicht mehr auf dieser Welt. Plötzlich spüre ich, du bist am Ende deiner Kraft, und so stelle ich mich der Herausforderung deines Lebens und unterstütze deine mentale Kraft mit meiner eigenen physischer Stärke durch die Situation hervorgerufenen Zustand und kämpfe innerlich den Kampf mit Dir, aber ich bin nicht allein. Deine Engel helfen mir dabei, und das Wunder geschieht. Dein Wille zu Leben ist mächtiger als deine Krankheit und so stellen wir uns fortan gemeinsam dem weiteren Leben.
Trotzdem bleibt die Situation weiterhin sehr kritisch, und niemand weiß ob die Stärke, die du bisher aufgewiesen hast, energisch genug ist, deinen Weg fortzusetzen. Unbewusst fürchte mich vor jedem weiteren Tag. Die Tage sind kraftzehrend und eine psychische Zereisprobe für meine Nerven. Zwischen den Besuchen auf der Intensivstation sitze ich abwechselnd vor der Pforte oder im Elternzimmer und starre Löcher in die Luft. Nur langsam geht es aufwärts und nach sechs langen Wochen dürfen wir das erste Mal nach Hause.
Meine Ehe hält diesem hohen seelischen Druck nicht Stand und zerbricht an den Folgen der schweren seelischen Belastung und mangelnder - besser - fehlenden Gespräche.
Die nachfolgende Zeit ist schwierig und ist für mich anfangs nahezu grotesk. . Nur mit Mühe schaffe ich es den Tages-Ablauf neu zu organisieren und zu ordnen. Mit einem Schlag habe ich keine Zeit mehr für meine eigenen Anliegen und notwendigen Dinge des Alltags. Alles richtet sich nach den Bedürfnissen meines Kindes und so nach und nach nimmt meine Tagesablauf abstrakte Formen an. Es gibt keinen Rhythmus, keine Schlafenszeiten und schon gar keine Regelmäßigkeit, weder am Tag, noch in der Nacht. Jedes Geräusch ist für mich auffällig, anders und bedrohlich, und so bin ich in ständiger Bereitschaft, in Falle eines Falles für meine Tochter da zu sein.
Die nachstehenden Monate vergingen ruhelos und ungewohnt und waren einschneidend und prägend. Nach der großen Korrekturoperation fuhren wir alle 3 Monate in die Universitätsklinik Gießen zur kardiologischen Kontroll-Terminen. Jennifer nahm von Anfang an, jede unerwünschte Schwierigkeit mit und Komplikation ist mittlerweile Jennifers zweiter Vorname. Der Druck in der rechten Herzkammer stieg in erschreckender Regelmäßigkeit in die Höhe, dass sich im vermehrten Schwitzen, geringer Belastbarkeit, und zunehmender Zyanose bemerkbar machte.
Zudem kamen immer mehr Probleme und Folgeerkrankungen hinzu, die nichts mit dem Herzfehler an sich zu tun hatten. Die Grunderkrankung stellte allerdings die Basis der zusätzlichen Beschwerden dar, die sich leider im laufe der Zeit immer mehr manifestierten.
Und so mussten wir in den darauffolgenden Monaten und Jahren noch oft in die Klinik um Lungenentzündungen, Bronchitis oder andere Infektionskrankheiten, die aufgrund der körperlichen erworbenen Immun-Schwäche hervorgerufen wurden, auszukurieren oder andere nicht kardialen Erkrankungen in den Griff zu bekommen.
Zwischen Krankenhausaufenthalten, Rehabilitations-Maßnahmen und Förderungs-Terminen wie Krankengymnastik und Logopädie, hatten wir nur selten Gelegenheiten, eine längere Zeit am Stück genießen zu können.
Trotz motorischer und sprachlicher Förderung, konnten wir selten einen vollendeten Erfolg verbuchen. Es war ein ständiges Hoch und tief und meistens war es so, dass behobene Blockaden, anderen Schwächen wichen.
Die geistige, motorische Entwicklung ging nur schleppend voran, und es dauerte endlos, ehe wir ein kleines Stück vorankamen. Sie entwickelte sich nicht wie andere Kinder, hat kein Angstpotential kaum Ausdauer beim Spielen und ich bin heute noch ständig beschäftigt von einer Ecke zur nächsten zu hechten, um Jennifer aus möglichen potenziellen Gefahrenquellen herauszuholen. Durch die oft gegensätzliche Mischung aus Hyperaktivität und Apathie ist es ein schmaler Grad den wir zu jeder Zeit begehen.
Nein es ist nicht immer leicht, aber ab und zu entwickeln sich aus den notwendigen Maßnahmen sogar amüsante Konstellationen.
So werden von mir, um unnötige Zwischenfälle zu vermeiden, mögliche Gefahrenquellen kurzerhand geschickt entschärft. Freunde die selten, wenn überhaupt zu Besuch kommen, darauf aufmerksam gemacht, dass sie ihren Cappuccino besser in der Hand behalten sollten, und darüber informiert, dass der Kuchen sicherer im Stehen eingenommen wird.
Ich habe mit der Zeit ein Händchen für solche Situationen entwickelt und sehe vieles lockerer und kreativer, was die generellen Grundsätze angeht. Auch wenn ich versuche, manche Aspekte entspannter zu sehen, ist es doch eine Tatsache, dass die unabänderliche Realität in der Praxis extrem nervenaufraubend und kraftzehrend ist, und der Alltag sich meist sehr schwierig gestaltet.
Ich glaube, ich habe zusammen mit meiner Tochter in den vergangenen 5 Jahren, ausnahmslos alle Varianten der gesundheitlichen und emotionalen Zustände durchlaufen und auf Scala von Leben bis Tod, von Erfolg bis Niederlage, jede Facette kennen gelernt.
Das Wechselbad der Gefühle vom Positiven zum Negativen geht teilweise nahtlos ineinander über, und sobald sich der Gesundheitszustand meiner Tochter verschlechtert, beeinträchtigt das im gleichen Maße meine Seele. So bewege ich mich auf der Gefühlsskala, je nach Verlauf, in einem nie endenden Wechsel zwischen niedergeschmettert und euphorisch.
So konnte ich, trotz anderslautender Prognosen, auf der einen Seite Fortschritte bei meiner Tochter beobachten, die, wenn auch langsam und mit vielen Rückschlägen verbunden, eine ständige Tendenz nach oben zeigen, sowohl auf motorischer, als auch auf sprachlicher und sozialer Ebene.
Im nächsten Moment wurden solche Erfolgsmomente von meiner Unsicherheit, meiner Angst überschattet, und natürlich durch mein Wissen um den Ernst der Lage.
Es sind schon banale und alltägliche Dinge, die mir zeigen, wie rasch sich das Blatt von einem Moment auf den nächsten wenden kann und wie groß das Risiko zu jeder Zeit ist.
Letzten Endes ist nun mal so, dass weder die Ärzte noch die Eltern über das Leben der Kinder entscheiden. Nur sie allein bestimmen den Zeitpunkt Es hat lange gedauert bis ich dies erkannt habe und annähernd umsetzen konnte.